von dreiSatz
Frau Kleinmann
11.4.2021
Ich schlage meinen Mantelkragen hoch. Ein kalter Wind weht um die Hochhäuser. 3. Aufgang, 11. Stock, links. Meine Augen zählen die Zeilen und Spalten der Klingelschilder ab. Die Wohnungen sind nicht nummeriert. Das macht die Klingelschilder persönlicher. Es macht sie auch unübersichtlicher. Ich scanne sie routiniert. „K“ wie Kleinmann. Meine Augen verweilen kurz bei „Köhler“, bei „Koscek“, und bleiben bei Kleinmann hängen. Ich klingle. Der Klingelknopf bleibt stecken. Ich stelle mir das Kreischen der Klingel im 11. Stock, 3. Aufgang, links vor. Ob nur Frau Kleinmann das hört, oder auch ihre Nachbarn? Vielleicht auch die im 10. und im 12. Stock, im 3. Aufgang, links. Große Mietshäuser sind oft hellhörig. Ich drücke und schiebe am Klingelknopf, aber er steckt fest. Am Rand ist ein kleiner Schlitz, aber meine Fingernägel sind zu kurz. Ich ziehe eine Stecknadel aus meinem Kopftuch und hebele den Knopf damit zurück in die Mitte der Öffnung. Plopp! In meiner Vorstellung hört das Kreischen der Klingel im 11. Stock auf und Frau Kleinmann, sowie ihre Nachbarn links, rechts, oben und unten sinken erleichtern in ihre Sessel zurück. Ich stecke befriedigt die Nadel zurück in mein Kopftuch, sammle die Einkaufstaschen zusammen und drücke die Haustüre auf. Der Aufzug funktioniert. Er wackelt und bringt mich, in flimmerndes Neonlicht getaucht, in den 11. Stock. Die achte Tür im linken, fensterlosen Gang ist bereits geöffnet. Ich stoße sie etwas weiter auf und rufe:
„Hallo, Frau Kleinmann, ich bringe Ihre Einkäufe!“
„Hallo Schätzchen!“ tönt es heiser von drinnen. „Kommen Sie nur rein.“
Die Tür öffnet sich direkt in das Zimmer, in dem Frau Kleinmann hinter einem niedrigen Couchtisch verschanzt auf dem Sofa sitzt. In einer Nische des Zimmers steht ihr Bett, der Vorhang davor ist offen. Ich blinzele, denn der kalte Zigarettenrauch brennt in meinen Augen.
„Wo soll ich Ihre Einkäufe denn hin stellen?“
„In die Küche natürlich, Schätzchen.“ Frau Kleinmann lächelt nachsichtig und deutet auf die Küchenzeile gegenüber der Couch.
Ich stolpere fast über den Sauerstoffschlauch, der sich über das Linoleum schlängelt.
Mein Fuß hat ihr die Sauerstoffbrille aus der Nase gerissen, so dass die durchsichtigen Kunststoffleitungen nun schräg über ihrem Gesicht hängen.
„Oh je! Entschuldigen Sie, bitte, Frau Kleinmann!“
Ob sie nun gleich zu bluten anfängt? Oder erstickt?
„Halb so wild, Schätzchen“, krächzt sie.
Frau Kleinmann kümmert sich nicht weiter um ihr Gesicht, sondern lehnt sich zur Seite, greift den Sauerstoffschlauch und zieht mit einem energischen Ruck daran. Wie ein folgsames Haustier schlängelt sich der Schlauch zu ihr neben den Couchtisch.
„Sei so gut, Schätzchen, und räum mir die Sachen in den Kühlschrank.“
Eigentlich muß ich weiter. Frau Kleinmann ist nicht meine einzige Klientin heute. Noch immer hängt ihr der Schlauch schief im Gesicht, doch ich traue mich nicht, ihn gerade zu rücken. (Ganz klar ist sie die Gebieterin über den Sauerstoffschlauch. )
So kniehe ich statt dessen nieder, befreie den Kühlschrank von offensichtlich verschimmeltem Inhalt und befülle ihn neu. Als letztes ziehe ich eine goldfarbene Plastikflasche aus der Einkaufstasche, falte die Taschen und lege sie auf die Anrichte. Auf der Plastikflasche steht: `Beauty Lotion, für seidig-sanfte Haut, mit dem betörenden Duft der Vanille`.
Ich drehe mich zu meiner Klientin. Die Sauerstoffbrille sitzt wieder gerade in ihrer Nase, läuft ordentlich hinter ihre Ohren und wie ein Herz unter dem Kinn zusammen. Sie wischt einen Teil des Couchtisches frei von Tabakkrümeln, schiebt den Aschenbecher zur Seite und wirft eine leere, goldene Plastikflasche in den Papierkorb neben dem Sofa.
„Wo möchten Sie die Körpercreme haben?“
„Stellen Sie sie hier auf den Tisch und setzen Sie sich.“ Sie deutet auf einen Hocker seitlich des Tisches.
„Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“
Eigentlich muß ich weiter. Frau Kleinmann ist schließlich nicht meine einzige Klientin heute. Ich sollte ihr sagen, dass ich gehen muß. (Doch die Autorität, die sie über ihren Sauerstoffschlauch hat, geht auch an mir nicht spurlos vorüber. )
(Also) Ich ziehe den Hocker zum Tisch und setze mich. Frau Kleinmann hebt mit einem Ächzen einen Korb vom Sofa auf den Tisch.
„Sehen Sie, Schätzchen, ich häkle.“
Sie kramt zwischen den Wollknäueln und befördert verschiedene Figuren zu Tage.
„Sehr hübsch,“ sage ich höflich. Ich hätte gern ein Taschentuch. Meine brennenden, tränenden Augen bringen meine Nase zum Laufen.
„Mal sehen, was zu Ihnen passt…“ Abwägend mustert sie gehäkelte Vögel, Katzen und Bären. Schließlich zieht sie ein Häschen heraus.
„Ja, das ist Ihres. Und jetzt gehen Sie, Schätzchen. Ich bin ja sicher nicht Ihre einzige Klientin heute.“
Im Aufzug betrachte ich den Hasen im flimmernden Neonlicht. Er hat schwarze, schiefe Augen und riecht wie Frau Kleinmann und ihre Wohnung, nach Zigarettenrauch und Vanille. Ich stelle mir vor, wie in den Wohnungen rechts und links und oben und unten von Frau Kleinmann’s Wohnung im 11. Stock, 3. Aufgang, links an Stelle von Duftkerzen gehäkelte Häschen, Vögel, Katzen und Bären im Regal stehen.