von dreiSatz
Goldener Westen
Natalja umklammerte das kleine goldfarbene Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing, führte es zu ihren Lippen und küsste es inbrünstig. Ihr Kopf wurde gegen die Wand geschlagen, als der Lastwagen über ein Schlagloch fuhr.
„Sei immer brav“, hatte die Mutter ihr auf den Weg mitgegeben.
Am Morgen waren sie losgefahren. Die Gespräche, die zunächst leise und schüchtern waren und sich im Laufe der Zeit zu einem fast fröhlichen Geschnatter gesteigert hatten, waren einer Erschöpfung gewichen. Das Licht, das jetzt durch den Spalt der festgebundenen, nicht ganz geschlossen Flügeltüren des Lastwagens hereindrang, färbte sich bereits rötlich. Der Lastwagen bremste, holperte und kam zum stehen. Eine Tür knallte, Schritte knirschten im Kies. Das Gesicht des Fahrers erschien im Türspalt. Er drehte den Kopf zur Seite, und Natalia konnte sehen, wie die Abendsonne sein blumenkohlförmiges Boxerohr zum Leuchten brachte. Wie die bunten Scheiben der sonst so finsteren Kirche in ihrem Dorf.
Der Fahrer löste die Knoten des Seils und öffnete die Flügeltüren weit. „Geht pissen“, sagte er mit tschetschenischem Akzent und deutete in den Wald am Rande der Strasse. Eine nach der anderen stolperte aus dem Lastwagen, blinzelte in die Sonne und ging mit steifen Schritten Richtung Waldrand.
Als sie alle wieder zurück in den Ladebereich des Lastwagens geklettert waren, hatte Sergej, der Fahrer, das Seil entfernt. „Wir fahren jetzt über die Grenze. Kein Mucks. Nicht reden, nicht schreien, sonst wird die Luft knapp.“ Natalia beobachtete, wie sich die eine Flügeltür des Lastwagens schloss. Kurz darauf kam die zweite. Der Lichtspalt wurde schmäler, dann Finsternis. Ein Ratschen zeigte, dass die Tür jetzt von außen verriegelt war. Wieder Schritte im Kies, aber leise, kaum hörbar. Natalia starrte auf den Punkt im Dunkel, wo zuletzt der Lichtspalt war. Ein Schaukeln zeigte an, dass der Fahrer seine Tür geschlossen hatte. Dann ein Vibrieren, es roch nach Diesel. Der Lastwagen setzte sich in Bewegung. Es wurde von Minute zu Minute wärmer und stickiger, das Mädchen neben ihr weinte.
Natalia suchte die Hand des Mädchens im Dunkeln. Als sie sie gefunden hatte, hielt sie sie fest. Die Hand war schweißig und warm, wie ihre eigene. Katarina hieß das Mädchen. Sie hatte 5 kleinere Geschwister. Das hatte Natalia auf dieser Reise bereits erfahren. Sie hatten darüber geredet, wie sie auf kleine Kinder aufpassen und im Haushalt helfen und damit viel Geld verdienen würden. Sie würden mit fließend warmem Wasser duschen, Turnschuhe kaufen und ein Handy, und immer noch mehr Geld nach Hause schicken, als ihr Vater und ihre Mutter zusammen verdienten.
Natalia dachte, sie könnte die Luft greifen, so dick schien sie ihr. Sie versuchte erfolglos die Augen offen zu halten. Ihren Kopf an Katharinas Kopf gelehnt schlief sie ein.