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Jazzfest

"Sind sie eine Schauspielerin?"

"Nein."

"Sie sind bestimmt eine Schauspielerin, deshalb tragen sie die große, dunkle Sonnenbrille."

"Nein, bin ich nicht." Sie geht weiter und zieht ihr Baseball Cap tiefer ins Gesicht. 

Hinter dem Ausgang sieht sie ihn, groß, mit rasiertem Schädel, einem grünen und einem roten Kniestrumpf in den Turnschuhen, immer ein wenig federnd, immer in Bewegung. Sie wartet auf eine größere Gruppe die das Gelände verlässt, dann geht sie wie selbstverständlich durch den Ausgang auf das Festivalgelände. Sie geht an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen und nimmt die abgerissene Eintrittskarte, die er zwischen seinen verschwielten Fingern hält. Hinter dem Getränkestand bleibt sie stehen und wartet, bis er aus einer anderen Richtung auf sie zuwippt. Sie küsst ihn auf den Mund mit den schiefen Zähnen und sieht von unten die rötlichen Flecken und schuppigen Hautveränderungen an den Schläfen.

"Ich muss zum Erste Hilfe Stand.“

"Warum?"

Er deutet auf die Rückseite seines linken Oberschenkels, wo unter der zu kurzen Fußballhose das Blut herunterläuft."

"Was ist passiert?"

"Ich bin am Stacheldraht hängengeblieben."

Sie suchen den Erste Hilfe Stand. Er hält ihre Hand fest, aber lässt den Arm nicht entspannt hängen, sondern angewinkelt, so dass ihre beiden Hände wie eine gemeinsame Faust vor ihnen ragen und jeder sehen kann, dass er diese Frau führt. 

"Hast du keine Schmerzen?"

"Nein, aber es muß desinfiziert werden."

 

Sie stehen in der Sonne und blicken auf die Bühne. Er riecht nach Marihuana, die Menschen um sie herum tanzen. Ihr hellblaues Spagetti-Oberteil ist vom Schweiß dunkel gefärbt, zwischen der Brust und unter den Armen. Ihre hellen, schlanken Beine glänzen. Schweißstrassen ziehen sich durch die staubigen Unterschenkel und enden in den Turnschuhen. 

 

"Heiratest du mich?"

Das Saxophon quietscht, sie antwortet nicht.

"Heiratest du mich?"

"Ich liebe dich.“ Sie blickt zur Bühne. 

 

Er lässt ihre Hand los, geht durch die Tanzenden hindurch und pinkelt an die Rückseite eines Getränkestandes. 

 

 

14 Jahre später in einem anderen Land:

 

"Die Eheleute erklären übereinstimmend, dass die Ehe gescheitert ist." 

Der Richter wendet sich an die Ehefrau: "Haben sie Einwände?" 

„Nein.“

Der Richter wendet sich an den Ehemann: "Haben sie Einwände?"

Der Ehemann blickt auf die Ehefrau, dann zum Richter. "Nein."

"Hiermit erkläre ich die Ehe für geschieden. Das Urteil geht ihnen mit der Post zu."

 

Im Aufzug auf dem Weg nach unten zum Ausgang.

"Jetzt bis du ein freier Mann."

"Und du eine freie Frau"

„Ja." Sie lächelt. 

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