top of page

Zettlow

 19.10.2020

Zwei Wochen Quarantäne in Zettlow in Mecklenburg Vorpommern. Mindestens zwei Wochen. Holger hatte ein kleines Haus gemietet, mit einem Garten. Der Garten grenzt an ein Feld, und direkt hinter dem Feld beginnt der Wald. Der Absonderungsbescheid wurde vom Dorfbürgermeister persönlich über den Gartenzaun geworfen. Der Bürgermeister trug Handschuhe, Gesichtsmaske und einen Einweg-Maleranzug mit Kapuze und gab Holger durch Handzeichen zu verstehen, nicht das Haus zu verlassen, bis er weg war. Eigentlich wollte Holger drei Tage Pause von der Großstadt machen, Freitag, Samstag, Sonntag. Am Freitag Nachmittag, kurz nach seiner Ankunft in dem Ferienhäuschen, kam der Anruf vom Gesundheitsamt Berlin-Neukölln. Christopher ist an COVID-19 erkrankt. Sie hatten am Wochenende zusammen Musik gemacht, 4 Stunden lang in ihrem Proberaum. Am Donnerstag war Christophers Corona-Testergebnis zurück gekommen. Er hatte Holger als Kontaktperson angegeben. (Holger hatte Christophers Nachricht nicht geöffnet. Er war zu beschäftigt gewesen.) 

Nun sitzt Holger in Zettlow in Mecklenburg Vorpommern fest, schon seit 5 Tagen, mitten im Nirgendwo, bewacht vom ehrenamtlichen Bürgermeister und Dorfbewohnern, die ihn wie einen Aussätzigen mit Angst und Misstrauen meiden. Immerhin wird ihm alle 2 Tage ein Essenspaket an die Grundstücksgrenze gestellt. Er wartet rücksichtsvoll, bis der vermummte Bote nicht mehr in Sichtweite ist, bevor er das Paket hereinholt. Das Haus hat kein WLAN, der Handyempfang ist unzuverlässig, sein Smartphone braucht Stunden, um eine Webseite aufzubauen. 

 

Holger hat seine Gitarre dabei. Und seine Joggingschuhe. Statt in den Wald, geht er nun in den Garten. Er ist vor 6 Uhr aufgewacht. Kein Wunder, vor Langeweile war er um 10 Uhr abends eingeschlafen. Frühstück, anziehen, dem Tag eine Struktur geben. Er trägt die Bank vor dem Haus an die Grundstücksgrenze und holt seine Gitarre. 

Mit dicker Jacke und Wollmütze sitzt er auf der Bank und lässt den Blick über das weite Feld gleiten. Nebel steigen auf und lassen den Waldrand nur erahnen. Er stimmt die Gitarre und probiert ein paar Akkorde, variiert sie. Die Töne tragen in der stillen, nebeligen Herbstluft. Es scheint ihm, als ob er die Töne sehen kann, wie sie über den Graben und über das Feld in den Nebel hineinfliegen. Er schaut ihnen nach, wie sie verschwinden, und schickt eine Tonfolge hinterher. So spricht er mit dem Nebel, und der Nebel hört zu. Der Nebel schluckt die Töne, nimmt sie auf, bereit für mehr. Holger beginnt, dem Nebel seine Geschichte zu erzählen, in Akkorden zuerst, dann in selbstständigeren Tonfolgen. Erst entstehen die Klänge zögerlich, unsicher, dann aber fliegen sie immer dringlicher über das Feld, bis schließlich ein Ton den anderen jagt. Er hat so viel mitzuteilen. Nach diesem ersten Bekenntnis lässt Holger die Gitarre verstummen und lauscht der Stille. Am Rand des Nebels grenzt sich eine Gestalt ab. Holger schickt einen einzelnen Ton zu ihr hinüber. Die Gestalt wird deutlicher. Er lockt sie, mit seltenen, zarten Tönen. Vorsichtig, er will sie nicht verschrecken.  

 

Die Sonne wird stärker, der Nebel löst sich auf. Und mit ihm verschwindet die Gestalt. 

 

Holger packt die Gitarre und geht zum Haus zurück. Noch 9 Tage in Zettlow in Mecklenburg Vorpommern. 

Aboformular

  • Facebook
  • Twitter

©2020 flash fiction. Erstellt mit Wix.com

bottom of page